Abschlussbericht der Direktion

Von Walter P. Hottiger von Siebenthal, Directeur sportif a. D.

Wenn Sie, lieber geneigter Leser, diese Zeilen lesen, sind es die letzten, die ich in Sachen «Tapir-Challenge 2002 Glarus-Nizza» schreibe. Das ist aus meiner Sicht das ultimative, schriftliche Ende der Durchsage. Beim letzten Punkt bin ich wieder ein Directeur sportif a. D., im Ruhestand. Ein Mann im SPORTTIEF, wie sich mein Freund Daniel Kistler in seiner nicht zu übertreffenden Art auszudrücken beliebt. Ausgerechnet Dani, der bei seinem einzigen Trottinett-Versuch nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch jene vieler Mitmenschen gefährdete. Ganz zu schweigen vom Verkehrs-Chaos, das seine Mini-Ausfahrt verursachte. Sogar die Polizisten waren am Rande des totalen Zusammenbruchs.

Dem Fahrer noch mal so richtig den Kopf waschen!

Aber lassen wir das, wenden wir uns einem Mann zu, der in Glarus mit dem Velo losfuhr, um in Nizza ein Bad zu nehmen. Das genau war die Ausgangslage – nichts anderes. In seinen kofferschweren Unterlagen, die er mir bei Vertragsunterzeichnung zeigte, fand ich ein Zitat des absolut besten Velo-Rennfahrers der Gegenwart, Lance Armstrong. Das da heisst: «Man macht etwas, weil man wissen will, was alles in einem steckt. Man macht es, weil man sich nicht vorstellen kann, das man es nicht macht.»Wer unseren Tapir kennt und ein klein wenig denken und Menschen studieren kann, weiss, dass ihn diese Aussage buchstäblich bis ins Herz getroffen haben muss. Sie hat ihn nicht mehr losgelassen. Sie ist ihm auf den Leib geschrieben. 100%ig! So einer ist unser André. Ich habe in meinem Leben Hunderte von Menschen kennen gelernt, die etwas Ausserordentliches unternehmen und vollbringen wollten. Nur ganz selten habe ich erlebt, dass das Vorgenommene auch verwirklicht wurde.

 

Ich gebe hier zu Protokoll, dass André Maerz (42) von Ennenda (GL) im Juni & Juli des Jahres 2002 sein Vorhaben durchgezogen hat – Übung Nizza ist beendet. Vorhaben restlos geglückt. Auftrag erfüllt. Der Mann war im Meer (siehe Foto). Ein riesiges Kompliment an ihn von einem Mann, dem man viele Wissens-Lücken aufzeigen kann, aber niemals in Sachen Radrenn-Sport. Und ich weiss, dass sich der Herr Maerz über MEIN Kompliment mehr freut als jenes des Herrn Michael Ringier, selber ein sehr sportlicher Mann (Tennis, Skilanglauf), oder jenes vom Gemeindepräsidenten von und zu Glarus notabene.

 

Neben der tadellosen Vorbereitung und gutem Material hat mein Freund André seinen grossartigen Sieg über sich selbst einem einzigen aber kapital wichtigen Charakterzug zu verdanken. Und kommen Sie mir, liebe Leser, ja nicht mit den steilen Bergen, der Hitze, Kälte, Entbehrungen und so weiter. Alles dummes Zeug!

 

Der Siegfahrer – und er wurde einer im wahrsten Sinne des Wortes – kann etwas, was ich so bis in die letzte Konsequenz durchgezogen noch nie bei einem Menschen gesehen und erlebt habe. Einfach sagenhaft. Tapir muss in seinem Hirn, direkt oberhalb der Hermann-Hesse-Brille, einen Minicomputer eingebaut haben, der mit absoluter Genauigkeit wichtige Aktionen und Pflichten sortiert und voneinander trennt. Ein vollautomatischer Sender quasi der befiehlt: «Trenne Artikel.»

 

Mit unheimlicher Beharrlichkeit, Logik und sehr viel Willen kann der Maerz etwas mit 100%igem Einsatz tun, nur etwas auf einmal – und sonst gar nichts.

 

• Wenn er arbeitet, ist er ein Arbeitstier mit Scheuklappen. Ein Witz zwischendurch muss für ihn eine echte Todsünde sein.

• Wenn er Jazz hört, ist schon der leiseste Ansatz einer Frage ein Sakrileg.

• Beim Velofahren dasselbe in blau. Nur der Sattel zählt. Und das mit dem immerhin erschwerenden ganz und gar unbefriedigenden Wissen, in Sachen Renntechnik, Renninstinkt und Rennübersicht ein banausenhaftes Mauerblümchen-Dasein zu fristen.

• Wie jeder gesunde, junge Mann macht er natürlich auch Liebe. Warum denn nicht. Aber da muss ich passen mit der Beweiskraft. Ich war nie dabei. Trotzdem kann ich mit Bestimmtheit sagen, dass Andrés Riesen-Bett stabil sein muss. Ausserordentlich stabil. Das härteste Holz ist da gefragt. Nix Ikea! Und natürlich ein Betonbboden. Des Durchbrechens wegen.

 

Dieses geniale Beherrschen eines «Nur etwas auf einmal machen, dafür mit allen mobilisierbaren Kräften» ist der wahre und einzige Grund, warum Tapir Nizza erreicht hat. Nur der totalen Beherrschung dieses «Systems» wegen ist er jetzt am Meer.

 

Beine, Arme, Rücken, das Gesäss, Füsse, die oft bejammerte Kälte, Hitze mussten einfach mitmachen resp. durchgestanden werden, weil es der Mini-Computer im Hirn so befahl. Dazu kommt noch, dass ein Herr Maerz, so wie ich ihn kenne, lieber an einem gottverlassenen, französischen Stutz «verreckt» wäre, als aufzugeben. Bittte entschuldigen Sie den Ausdruck – aber genau so ist es!

 

Bleibt noch die Würdigung von Sibyl, unserer Pressechefin – um nur eine ihrer vielen Tätigkeiten zu erwähnen. Ich habe sie in fast allen Artikeln gelobt, aber ich tue es sehr gerne nochmals. Und das schönste Kompliment, das ich einer Frau überhaupt machen kann (ich bin in dieser Beziehung eher beschränkt) ist dies: Sibyl ist ein echter Kamerad für die Berge. Dieses Kompliment kann man erst richtig werten wenn man weiss, dass ich Felsen und Steine über alles liebe. Zudem war sie die Zuverlässigkeit in Person, was man auch nicht unbedingt von allen Frauen behaupten kann.

 

Zu allerletzt – wie sich das gehört – noch ein Wort zu mir und meiner Funktion als Directeur sportif. Tapir, normalerweise wirklich nicht auf den Kopf gefallen und als Manager schwierigster Verhandlungen ein Geizkragen und eiskalter Oberfeilscher sondergleichen, hätte sich eingentlich sein wirklich grosszügiges ja fürstlichesVertragsgeld sparen können. Denn – seien wir ehrlich in Anbetracht des reibungslosen Renn-Verlaufs – meinen Job hätte jeder Mann erfüllen können, der ein geräumiges Fahrzeug sein eigen nennt, einen Fahrausweis hat, unter keinen ansteckenden Krankheiten leidet, sich in angemessenem Ton mit Sibyl unterhalten kann und den schwierigen Dialekt des Glarner Hinterlandes einigermassen versteht. Selbst der ganz am Anfang erwähnte Daniel Kistler hätte kaum das Kunststück fertig gebracht, mehr als ein paar grössere Fehler pro Tag zu machen. Und diese – für Herrn Kistler nicht eben schmeichelhafte - Tatsache sollte nun wirklich jedem die Augen öffnen über die Leichtigkeit meiner Tour-Aufgaben.

 

Bleibt noch die Frage offen, warum ich es getan habe. Ich tat es, weil ich unbedingt wieder einmal «an einem Rad» sein wollte, das ich fast 30 Jahre lang so sehr vermisst habe, dass mir in stillen Nächten das Herz schwer wurde. Ich habe es getan, weil ich für 16 Tage wieder 30 Jahre jünger sein wollte, dabei sein, wenn die geliebten Räder surren. Für kein Geld dieser Welt hätte ich diese «Radwanderung» jemand andern abgetreten. Nein, davon hätte mich keine Drohung abbringen können. Drohungen von niemandem.

 

Es muss schon so sein, wie es der leider verstorbene Ritter der französischen Ehrenlegion, Serge Lang, Erfinder des Ski-Weltcups und jeweils so etwas wie die graue Eminenz der Tour de France, einmal ausgedrückt hat. «Der Walo Hottiger ist ein Novum. In seinem Herzen rollt ein goldenes Rädchen. Bei jedem Herzschlag macht's eine Radumdrehung. Schön, dass es solche Menschen gibt.» Ende der Durchsage.

 

So sei es denn. Der Tapir geht wieder ans Werk um die Ringier AG noch reicher und grösser zu machen, und Sibyl übernimmt eine neue Schulklasse. Mit wöchentlichen, lockeren Abstechern zum Klöntaler-See.

 

Ja und ich? Ich komme schlicht und einfach wieder auf den Hund. Richtig gelesen, den Hund. Meine über alles geliebte Boxer-Hündin Aischa (5), gestromt, reinrassig, mit hervorragendem Charakter und leicht übergewichtig (35 statt 32 kg) - wie übrigens auch ich. Ich werde mit ihr ausgedehnte Wald-Spaziergänge machen und von Tapir, meinem Ex-Siegfahrer und Sibyl, meiner Ex-Steinsucherin erzählen.

 

Und meine treue Hunde-Dame wird mich mit ihren dunklen Augen anschauen, die gewaltige Schnauze in Falten legen und sie mir fest ans Knie pressen. Weil Aischa mit ihrem Instinkt besser merkt als jeder Mensch, dass ich beim Erzählen glücklich bin. Sie wird dann mein allerletzter Velo-Kamerad sein, aber ein absolut verlässlicher und geduldiger. Und sie wird mir die Treue halten und niemals aufhören zuzuhören. Ein einsamer Erzähler und sein Hund. Ich hoffe inständig, dass wir lange von der Erinnerung leben können. Natürlich nicht mehr 30 Jahre lang, aber doch noch ein gutes Stück weit...