Geschafft

Maillot jaune nach Nizza gebracht

Das Wichtigste vor einem Rennen oder vor einer Rennetappe ist das Wissen, was da auf einen zukommen wird. Mit grossem Interesse lausche ich deshalb den Ausführungen der Direktionsassistentin, welche mit dem Mountain-Bike auf die Cime de la Bonette geradelt (!) ist zur Rekognoszierung. Ich weiss also, dass mich der schönste und der höchste Pass der ganzen Tour erwartet, dass es heiss werden wird und dass ich nach dem Pass immer noch gepflegte 130 km Abfahrt bis ans Ziel in Villefranche s. M. bei Nizza vor mir habe. Die letzten 50 km werde ich weitgehend auf mich allein gestellt sein, weil in mehrspurigen Strassen von und nach Nizza das Begleitfahrzeug nicht in meiner Nähe bleiben kann.

Salzwasser. Innen und aussen.

Angesichts der über 150 km, die uns erwarten, starten wir eine Stunde früher als üblich. Es geht durch eine wunderschöne Landschaft Richtung Baumgrenze. Nach etwa einer halben Stunde erblicke ich 200 Meter vor mir ein Maillot rouge. Weiss zwar nicht, was das für eine Wertung ist, aber der Kerl fährt so ziemlich mein Tempo. Ich behalte ihn im Auge. In einer Kehre erkennt er seinen Verfolger. Der Abstand wird etwas kleiner, aber der rote Teufel ist hartnäckig. Möglicherweise habe ich gegenüber dem Roten allerdings einen Vorteil: Ich habe mir tags zuvor im Ortsmuseum das Relief des Passes genau eingeprägt und habe die Schilderung unserer Direktionsassistentin noch in den Ohren. Ich weiss also, wo wir sind und wann ich angreifen muss. Ich kämpfe mich mit kleinen Zwischenspurts näher. Immer dann, wenn der Rote mich nicht sieht. Er soll nicht wissen, dass ich zwischendurch mal einen kleinen Kick mache. Vielmehr soll er das Gefühl haben, dass da der Tapir-Express gnadenlos auf Überholkurs ist. Etwa zwei Kilometer vor dem Restefonds nehme ich das Hinterrad des Roten. Er versucht nochmals, wegzukommen, aber vergeblich. Ich lauere schon auf das Flachstück vor der Passhöhe. Und dann geht’s los. Der Tapir macht Männchen und fetzt los wie von der Tarantel gestochen. Nach dem Restefonds gleich in die Extremsteigung auf den Cime de la Bonette. Sibyl ist da tags zuvor zwischendurch abgestiegen, weil es so steil ist und weil in 2800 Metern Höhe die Luft schon ziemlich dünn ist. Ich steige sicher nicht ab! Ha, Sibyl, das ist die Revanche für den Tylerpass in den Rocky Mountains! Damals hängte mich Sibyl kurz vor dem Gipfel (4000 m) ab.

 

Geschafft! Alle Pässe der Glarus-Nice Challenge erledigt. Helm auf, Rennbrille, neue Bidons. Und jetzt nichts wie runter ans Meer. Der Rote kommt jetzt auch. Shake hands. «Bon voyage!»

 

Jetzt bin ich wieder im Element. Fräsen, dass die Grasnarben am Strassenrand angesengt werden! Allerdings werde ich gleich zu Beginn der Abfahrt um ein Haar von zwei Murmeltieren zu Fall gebracht, welche sich mitten auf der Strasse verlustieren. Kilometer um Kilometer geht es abwärts. Immer mit 50 km/h und mehr. So macht das Spass. Allerdings beginnt sich der erwartete Gegenwind immer unangenehmer bemerkbar zu machen. Obwohl es immer noch abwärts geht, kommt das kleinste Ritzel immer weniger zum Zuge.

 

Nach einem kleinen kopfkühlenden Zwischenstopp bei einem Brunnen muss sich das Direktionsfahrzeug von mir trennen. Auf dem autobahnähnlichen Gebilde bin ich von jetzt an für die letzten 50 km auf mich allein gestellt. Der dichte Verkehr ist nicht angenehm, doch die vorbeidonnernden Lastwagen erzeugen immer wieder einen kleinen Sog, der etwas Entlastung bringt in der Treterei gegen den Wind. Ich sehe die ersten Flugzeuge vom Flughafen Nizza. Es kann nicht mehr weit sein.

 

Dann zweige ich links ab Richtung Centre Ville. Es geht zuerst über einen kleinen Hügel. Den kicke ich voll durch, denn ich kann das Meer förmlich riechen. Keine Schmerzen mehr in den Beinen. Und jetzt auf die «Promenade des Anglais», die Flaniermeile entlang dem Meer! Ich habs geschafft!

 

Jetzt Telefon mit dem Direktorium. Die haben mittlerweile das Hotel gefunden und sind unterwegs an den Strand von Villefranche, wo wir abgemacht haben zur Wasserung des Villigers. Natürlich ist das Direktions-Pärli nicht zur Zeit da. Der Fahrer muss warten. Aber was macht das schon. Während ich da stehe und nach den beiden Ausschau halte, kommt mir eine Idee für nächstes Jahr.

 

Statistisches: Jausiers – Cime de la Bonette (2802) – Nizza – Villefranche s. M.; 153 km in 5:58 (Schnitt 26.37 km/h bei 1800 Höhenmetern). Persönliche Ziele, Direktionsvorgaben sowie Gesamtziel ohne jegliche mechanische Defekte erreicht. Einen Dachschaden hatten wir schon vor der Tour.