Passstrassenwegrandchronogisches

Zehn Millionen können nicht irren

Es gibt Leute, die lieben Bahnhöfe, Flugplätze oder Häfen, weil diese der Ausgangspunkt für Reisen sind. Bahnhöfe, weil die Gleise in die Welt hinaus führen, sicher, bequem, zuverlässig. Die Flugzeuge bringen sie innert kürzester Zeit ins Paradies und auf dem Wasser zu reisen, verspricht noch immer, ein grosses Abenteuer zu werden.

 

Ich liebe Wegränder. Sie bieten gewissermassen eine andere Sicht der Dinge. Ich reise nicht - ich lasse reisen. Wegränder sind wie Strände voller angeschwemmtem Strandgut, sie sind voller Strassengut sozusagen. Eine weggeworfene Getränkedose erinnert an einen Fiat Panda voller junger Leute, auf dem Weg nach Süden. Ein einzelner Arbeitshandschuh gibt Auskunft über das Leben eines Gastarbeiters, der hier seit Jahren ohne seine Familie lebt. Ein Geldstück ist einer Frau aus der Tasche gefallen, als sie sich mit ihrem Kind am Strassenrand hingekniet hat, um einem Igel über die Strasse zu helfen.

 

Doch nicht allein die Fundstücke, welche die Menschen auf ihren Reisen verloren oder weggeschmissen haben sind es, die Geschichten erzählen. Jede Blume, jede Pflanze ist in ihrem Samen – von woher auch immer – auf diese Stelle gefallen, um da Wurzeln zu schlagen und sich in voller Pracht zu entfalten.Jeder Stein, ist wohl von viel weiter oben oder sogar unten dort hin zu liegen gekommen, wo ich ihn dann aufnehme. Irgendwo an einem anderen Stein gibt es eine Bruchstelle, die haargenau komplementär ist zu der des am Boden liegenden Steines.

Was der Fahrer und der Directeur sportif untewegs nicht sahen.

Ab und zu sehen wir von der Strasse aus eingefallene Burgen, verlassene, leerstehende Gebäude. Auch sie erzählen Geschichten. Geschichten von den Menschen, die einst darin gelebt oder gearbeitet haben. Die überwachsenen, eingefallenen Mauern wiederum flüstern mir die Tragödie des Zerfalls und der Rückeroberung durch die Natur zu. Ich kann mir ausmalen, wie ich das Gebäude wieder aufbauen und darin leben und arbeiten würde.

 

Ab und zu fahren wir aber auch durch wirklich wüste Orte, wie Val d’Izère oder les Arcs. Hemmungslos in die Hänge und Täler hineingebaute Hotelstädte, von denen aus sich sternförmig Skilifte, Seilbahnen, Gondelbahnen und Strassen bis in die höchsten Gipfel hinauf wie riesige Spinnenarme ausbreiten und von dort weiter und noch weiter das ganze Gebirge vereinnahmen. In meinen Augen eine üble Sache.

 

Denn nicht zuletzt und vor allem liebe ich die Berge und ihre Pässe darüber. Mit eigener Körperkraft einen Berg erklommen zu haben, ist eines der schönsten Gefühle, die ich kenne. Oben zu stehen in einer grossartigen Landschaft, hinter sich die Arbeit und vor sich das Vergnügen zu sehen, das ist ein gutes Gefühl.

 

Auf dieser Tour geht es mir diesbezüglich gut. Ich fahre auf Passstrassen und bin durch meine mir zugedachte Aufgabe als Star-Fotografin gezwungen, am Wegrand immer mal wieder einen Stopp einzulegen, damit ich am Ende der Etappe mit Bildmaterial vom Fahrer aufwarten kann. So komme ich sozusagen in den Doppel-Genuss: Passstrassenwegränder. Das bietet viel Stoff. Ich habe zum Beispiel bereits mehrere Strassenmarkierungspfosten gesehen, die Wurzeln geschlagen haben und aus denen kleine hellgrüne Blätter spriessen. Ausserdem einen Belgier, der den Übergang vom alten zum neuen Strassenbelag fotografiert hat. Einen Esel mit flauschigen Ohren, der unter dem Zaun durchgefressen hat und im Teer eingedrückte Fussspuren. Die Passstrassen sind von weggeworfenen Energiedrinkdosen und Energieriegelpapieren gesäumt, welche an all die armen Veloseelen gemahnen, die sich die gewundenen Strassen hinaufgequält haben. Hier und da ein Stück Veloschlauch an strategisch ungünstigen Stellen (kein Natel-Empfang) lässt vor meinem geistigen Auge, Heerscharen von fluchenden auf den Fersen - wegen der Clippeinsätze - herumstöckelnden Velorennfahrern in schicken Velohosen mit Schaumgummisitzeinsatz vorbeiziehen. Blutspuren sieht man freilich keine, aber das eine oder andere Loch im Strassenbelag wird auch schon den einen oder anderen Zweiradfahrer zu Fall gebracht haben.

 

Doch das, was mich in diesen Tagen am meisten beeindruckt, sind die Pflanzen, die Blumen die da in allen Farben, Grössen, Formen und Varianten entlang der Strassen stehen. Kein Wiesenbord gleicht dem anderen. Eine Augenweide, Labsal für die Seele!

 

Ich liebe Wegränder mehr als Bahnhöfe. Das wahre Leben spielt sich dort ab. Denn die über 10 Millionen Zuschauer welche die Tour de France vom Strassenrand aus verfolgen, können sich nicht irren. Oder?