Klausen in der Arktis

Seit dem 7. Januar habe ich mich auf diesen Tag gefreut. Start zur Glarus-Nice Challenge 2002. Dreizehn Pässe in acht Etappen, fast 1000 km von zuhause an die Côte d’Azur. Während des Aufbautrainings habe ich zwar ausser dem Pragel keine Pässe gefahren (weil die entweder geschlosen waren oder ich an den schönen Tagen nicht genügend Zeit zum Trainieren hatte). Dennoch fühlte ich mich am Freitag vor dem Start bereit für das grosse Unterfangen. Schliesslich hatte ich über 3000 Trainingskilometer in den Beinen und mehr als das Zehnfache an Höhenmetern. Grösste Sorge bereitete mir das Wetter. Zwei, drei Stunden in der glühenden Sonne. Wenn das nur geht!

Pflotschnass, aber noch fröhlich.

Blick über den Lenker

Nass, nässer, Pflotsch 

 

Doch nach Wochen schönem Wetter ist klar, was genau am Tour-Start passiert: Es regnet und es ist kühl. Die ersten 30 km der Tour kenne ich im Schlaf. Weiss genau, wo ich in welchen Gang schalten muss, wo ich kurz aufstehe, wie schnell ich gegenüber meinen Marschtabellen oder gegenüber Rekordfahrten bin. Schon ab Schwanden bin ich durch und durch nass. Aber mein Musikprogramm hält mich bei Laune. Vor dem «Bergli» fährt das Begleitfahrzeug erstmals vor. Alles in Butter. Nass, aber Stimmung allseits gut. Ankunft Urnerboden: Immer noch alles gut. Sogar sehr gut, denn mit 1:22 für diesen ersten Teil bin ich recht schnell. Also ohne Unterbruch gleich weiter. Der Urnerboden selber bietet Gelegenheit, die Muskeln im Fahren ein wenig zu lockern. Im Fahren besprechen wir den Tenüwechsel auf der Passhöhe. Dann fährt das Begleitfahrzeug weg.

 

Ar(kti)sch kalt!  

 

Ououou! Jetzt beginnt der Wind giftig zu blasen. Voll ins Gesicht. Feine Hagelkörner. Tausend Nadeln. Ich werde steifer und steifer. Ich versuche, so schnell wie möglich zu fahren, nur um etwas Wärme zu generieren. Schöner Scheiss-Start in die Glarus-Nice Challenge. Aber ich tröste mich mit dem Gedanken, dass das Villafest vom vergangenen Wochenende dafür umso besseres Wetter hatte. Und dieses Klausenwetter ist jetzt halt die Quittung dafür. Die auf den Asphalt gesprayten Nummern halten mich am Leben. Ich weiss, wenn ich die Nummer 108 lese, dann bin ich kurz vor dem Kiosk auf der Passhöhe. Die Sicht ist mittlerweile gleich null. Ich spüre meinen Körper kaum noch. 106. 107. 108. Noch ein paar Meter. Sibyl winkt.

 

Steif

 

Tenüwechsel im strömenden Regen. Meine Füsse spüre ich nicht mehr. Die Handschuhe kann ich nicht selber ausziehen. Walo hilft mir. Jetzt volle Wintermontur anziehen. Wollleibchen, Goretex-Daunenjacke, Regenjacke und Hose, neue Schuhe, Goretex-Winterhandschuhe. Licht montieren am Velo. Man sieht nichts mehr im Nebel. Nach wenigen Minuten geht’s weiter. Fast im Schritttempo. Man sieht die Strasse nicht. Walo fährt dicht hinter mir. Er orientiert sich an meinem blinkenden Rücklicht. Ich muss nochmals stoppen. Meine Brille ist angelaufen. Brillenwechsel. Jetzt geht’s etwas besser. Ich kann kaum bremsen. Die Finger sind so klamm. In Unterschächen wird die Sicht besser. Ich fahre zwar mit angezogenen Bremsen, aber ich trete dennoch mit, um die Blutzirkulation in den Extremitäten anzuregen. Die Sicht wird immer besser, der Regen wird etwas schwächer. Die Strasse ist seifig, aber ich beschleunige etwas, denn im oberen Teil haben wir ziemlich viel Rückstand auf die Marschtabelle eingefahren. Mit einem flotten 55er geht’s dann nach Altdorf rein. Ende Altdorf bereits wieder Tenüerleichterung, weil ich sonst von innen zu schwitzen beginne. Und weiter geht’s. In Flüelen merke ich, dass wir offensichtlich in die falsche Richtung fahren. Also umkehren. Ich sehe das Begleitfahrzeug. Die sind auch falsch gefahren. Also wieder zurück nach Altdorf.

 

Wieder opsi 

 

So jetzt sind wir richtig. Andermatt ist die einzige Bergankunft und höhenmetermässig die happigste Etappe der ganzen Tour. Obwohl ich die vergangenen dreieinhalb Stunden langsam zu spüren beginne in den Oberschenkeln, geht’s bis Wassen ziemlich flott voran. Immer wieder schaue ich nach rechts auf die Autobahn, wo Tausende von Lastwagen warten. Die warten bestimmt, weil die Strecke für den Verkehr gesperrt worden ist, bis die Glarus-Nice Challenge durch ist. In Wassen warten Walo und Sibyl. Kurzer Dialog in der Vorbeifahrt. Walo: «Jetzt hast du es dann bald geschafft!» So beschliesse ich, gleich weiter zu fahren. Wenn ich jetzt absteige, dann komme ich nicht mehr aufs Rad. Kurz nach Wassen überholt mich das Begleitfahrzeug. Begleiten können sie mich jetzt nicht mehr, der Verkehr ist horrend. Am schlimmsten sind die Lastwagen in den Tunnels und Galerien. Sie hupen von hinten. Man erschrickt zu Tode. Dann rasen sie zentimeternah an einem vorbei. Und dann drückt einem der Sog gegen die Wand auf der rechten Seite. Ich verdurste in den Abgasen, habe aber nichts mehr im Bidon. Ich verfluche den Directeur sportif. «Jetzt hast du es dann bald geschafft!» Ja mässi. Noch eine Kurve, noch eine Galerie, noch eine Kurve, noch eine Galerie, noch eine Kehre, noch ein Tunnel. Und immer schön opsi. Zwei Gedanken halten mich am Leben: 1. Dem Directeur sportif werde ich in Andermatt die Leviten lesen. 2. Mir tut zwar alles weh, aber nicht der sensibelste Körperteil des Radfahrers: Der Hintern. Wahrscheinlich spüre ich nichts, mehr, weil mein Hinterteil tiefgefroren ist. Und plötzlich steht er wieder da am Strassenrand, der Walo: «Noch etwa 1000 Meter!» Flamme rouge! Schlussspurt. Vor dem Hotel steige ich vom Rad. Soll der Walo sehen, was er damit macht. Zimmer 118. Dusche. Ein sensationeller Wasserstrahl. Etwa gleich stark wie der Eisregen auf dem Klausen. Nur wärmer.

 

Statistisches 

 

Glarus (470) – Klausenpass (1952) – Altdorf (470) – Andermatt (1444). 104.8 km (2450 Höhenmeter) in 5:22 (Schnitt: 19.5 km/h). – Eigene Vorgaben nicht erfüllt; 20er Schnitt war geplant.