Der Berg wehrt sich

Schnee, Eis, Wind

Nach einem herrlich sonnigen Ruhetag in Bourg St-Maurice mit Bähnli-Ausflug nach Les Arcs steht der Col d’Iseran auf dem Programm. Nominell der zweithöchste befahrbare Alpenübergang in Europa. Eigentlich aber der höchste, weil der Col de la Bonette, der uns zum Abschluss der «Petite boucle» noch bevorsteht, eigentlich ein Bschiss ist. Die eigentliche Passhöhe der Bonette liegt nämlich tiefer als der Iseran, aber ein Umweg auf über 2800 Meter ü. M. sicherte den Rekordeintrag. Das kenne wir doch: Die spinnen, die Franzosen.

 

Und obwohl wir dem Iseran diesbezüglich also den nötigen Respekt erweisen, wehrt sich dieser Löli mit allen Mitteln gegen unsere Überquerung. Beim Start in Bourg St-Maurice regnet es. Temperatur etwa 10 Grad.

Val d'Isère: Wintersportverhältnisse auch im Juli (oben). Kalte Füsse (unten).

Beim 30 km langen Aufstieg nach Val d’Isère (1000 Höhenmeter) schifft es immer mehr. Schon nach einer Viertelstunde bin ich durch und durch nass. In den steileren Anstiegen (12%) beschlägt meine Brille. Macht aber nichts, in dem Nebel sieht man ohnehin nichts. Die gefürchteten unbeleuchteten Tunnels mit defektem Strassenbelag sind gar nicht so schlimm: Wenigstens ein paar hundert Meter ein Dach über dem Kopf. Der Hintern tut mir auch nicht weh. Der ist schon bald abgefroren und dementsprechend schmerzunempfindlich.

 

In Val d’Isère werde ich dann kurz mal ziemlich wütend, weil das Direktionsfahrzeug abgängig ist. Ist die Kälte in den Steigungen noch erträglich, weil die Geschwindigkeit tief und die Anstrengung gross ist, so frisst sich die Kälte auf offener gerader Strecke aufgrund des Gegenwindes in den Körper hinein. Im strömenden Regen ein Tenuwechsel. Wie auf dem Klausen: Volle Wintermontur in vier Schichten. Dann sofort weiter. Die Muskeln werden hart wie Beton. Nach weiteren etwa 500 Höhenmetern muss ich für 20 Minuten vom Rad. Befindlichkeit eigentlich gut. Aber keinerlei Gefühl mehr in den Füssen. Ich sitze im Direktionsfahrzeug und reibe meine Füsse. Fünf Minuten, zehn Minuten, eine Viertelstunde, zwanzig Minuten. Gesprochen wird nicht viel im Auto. Gespenstische Ruhe. Jetzt beginnt es zu schneien.

 

«Wollsocken. Bike-Schue.» Knapper kann der Dialog nicht sein. Die Füsse sind zwar immer noch gefroren, aber der Umstand, dass ich die Zehen wieder bewegen kann, lässt mich wieder aufs Rad steigen. Dieser Sch...berg wird mich nicht so schnell ins Bockshorn jagen! Noch etwa 400 Höhenmeter. Jetzt ist mir alles egal. Nur Rüssel runter und durch. Auf der Passhöhe knattern Fahnen im Wind, der mir natürlich genau ins Gesicht pfeift. Wir halten uns nicht lange auf. Macht keinen Spass, im Eis- und Schneeregen. Mütze unter den Helm und runter! Nichts wie runter!

 

Mit abnehmender Höhe steigt die Temperatur langsam. Das Direktionsfahrzeug lässt verlauten, den Col de la Madeleine hätten wir schon geschafft. Aber selbst die zusätzlichen Kartenkunde-Lektionen der vergangenen Tage haben nichts gefruchtet: Ein Kilometer später beginnt der kurze Gegenanstieg auf die Madeleine. Von da aber geht’s runter, runter, runter, immer runter. Und wenn kein Gegenwind gewesen wäre, dann hätte ich auf den letzten 50 km wohl einen 50er Schnitt geschafft.

 

Natürlich wird jetzt Leserbriefschreiberin Christine Rennhard wieder mitteilen, dass sie in Neuseeland noch viel Schlimmeres erlebt habe: Elf Taifune mit vier Tsunamis, Schneestürme, Hagelschlag, Kugellagerwechsel bei totaler Dunkelheit und Überleben in einer selbstgebauten polynesischen Indianer-Schwitzhütte aus getrocknetem Eidechsen-Dung – und das alles an einem einzigen Tag! Doch das lässt mich kalt. So kalt wie meine Füsse am Col d’Iseran.

 

Statistisches: Bourg St-Michel – Iseran – St-Michel de Maurienne; 128,4 km in 5:38 (1900 Höhenmeter; Schnitt 22.76 km/h). Persönliche Ziele erfüllt.